Neue Zürcher Zeitung 5. April 2016, von Alexander Saheb

Zum Original-Artikel auf nzz.ch

 

Bereits seit einem Jahr hat sich die Geschäftsleitung des Internetunternehmens Liip nicht mehr zu einer Sitzung getroffen. Die Firma mit Hauptsitz in Freiburg, vier weiteren Schweizer Standorten und 135 Angestellten ist 2015 beim Umsatz und bei der Belegschaft trotzdem um 30% gewachsen. Migros, Raiffeisen, die Universität Zürich und die Schweizerische Nationalbank sind Kunden der Gesellschaft, die Websites entwirft. Liip erzielte den Erfolg mit einer vor drei Jahren eingeführten Struktur, die dezentral und selbstorganisiert ist. Das sei der einzige Weg gewesen, das Wachstum und den Wandel zu meistern, sagt Mitinhaber Gerhard Andrey.

Infolge der raschen Expansion war man immer öfter vor der Notwendigkeit gestanden, neuen Mitarbeitern die informell gewachsene Organisationsform und deren Abläufe zu erklären. Seit Herbst 2015 testet Liip deshalb das Konzept «Holacracy». Darin hat man ein Rahmenwerk und Vokabular gefunden, um die Firmenstruktur formalisiert abzubilden, erklärbar zu machen und weiterzuentwickeln.

Selbstverständlicher Wandel

Holacracy wählt für die Unternehmensentwicklung einen evolutionären Ansatz. Das von der US­-Gesellschaft HolacracyOne entwickelte Konzept kennt keine hierarchische Führungsstruktur. Eine Firma hat stattdessen ein einigendes Leitbild, den Unternehmenszweck (Purpose), der weit über die Gewinnerzielung hinausgeht. «Kreise» ersetzen die Abteilungen. Die Mitarbeiter erfüllen «Rollen» mit umfassend beschriebenen Aufgaben. Wer bei Holacracy einen Arbeitsvorgang («Prozess») ausführt, darf auch über dessen Struktur bestimmen. Holacracy ist ein Werkzeugkasten, um ein evolutionäres Managementkonzept einzuführen. Die dahinterstehenden Menschenbilder und Werte werden auf responsive.org ausführlich geschildert. In der Schweiz bestehen bereits mehrere Gruppen, die sich über solche Organisationsformen austauschen. Holacracy institutionalisiert die Entscheidungsbefugnisse der Belegschaft. Die Steuerung des Tagesgeschäfts und die Weiterentwicklung des unternehmensweit geltenden organisatorischen Regelwerks erfolgen in Meetings. Die «tactical meetings» regeln dabei alltägliche operative Abläufe. «Governance meetings» behandeln die Weiterentwicklung der Organisation und die Art der Zusammenarbeit. Für beide Entscheidungsebenen gilt: Wem etwas nicht gefällt, der kann an den Treffen einen Wandel verlangen und einen Änderungsvorschlag machen.

Dieser wird ohne weiteres umgesetzt, sofern kein Teilnehmer des Meetings einen dadurch entstehenden Schaden beweisen kann. Die Beweisführung sei dabei sehr streng und verhindere, dass jemand den Wandel bremsen könne, sagt Andrey von Liip. Die taktischen Meetings finden bei der Firma meist wöchentlich, die Governance-­Meetings alle zwei bis drei Wochen statt. Der Wandel im Unternehmen wird so selbstverständlich. Er darf jederzeit durch alle angestossen werden, ohne dass ein Konsens erreicht werden muss.

Bei Liip finden sich neue Mitarbeiter dank dem Holacracy-­Vokabular jetzt rascher in der Organisation zurecht. Im Vorstellungsgespräch wird dabei Klartext geredet. Man werde bei der Firma keinen Chef haben, selber aber auch nie Chef werden, heisst es da beispielsweise. In einigen Monaten wird man bei Liip entscheiden, ob man an Holacracy festhält oder ein anderes Konzept sucht.

Auch das Industrieunternehmen Oerlikon steht vor der Entscheidung, weitere Holacracy-Projekte zu verfolgen. Britta Bibel-­Cavallaro, Compliance-­Chefin der Gruppe, liess 2015 ein sechsköpfiges Projektteam unter Holacracy arbeiten. Laut ihrem Fazit laufen Projekte nun schneller und führen rascher zum gewünschten Ergebnis. Die Mitarbeiter können sich besser einbringen, Probleme in den Meetings sofort klären und sind wesentlich zufriedener. Bibel-­Cavallaro hat dabei beobachtet, dass sich Angestellte, die jahrelang in einer Hierarchie ohne eigene Entscheidungskompetenzen gearbeitet haben, bei Holacracy stark umstellen müssen. Ihrer Ansicht nach fühlen sich deshalb eher jüngere Mitarbeiter ohne starkes Hierarchiebewusstsein mit dem Konzept wohl. Diesen sage auch zu, dass Firmen unter Holacracy ihren Daseinszweck jenseits von Gewinnmarge und Umsatzzahlen definierten. Aufmerksam verfolgt derweil Peter Stämpfli die Entwicklung und Verbreitung des Konzepts in der Unternehmenswelt. Der Verwaltungsratsdelegierte der Berner Stämpfli­Gruppe, die im Druck­ und Verlagswesen tätig ist, möchte aus dem traditionellen Hierarchiedenken ausbrechen und seine Firmen zu Netzwerkorganisationen entwickeln. Im komplexen, sich rasch ändernden wirtschaftlichen Umfeld der Gruppe genügen die Ergebnisse klassischer Entscheidungsfindung immer weniger. Eigenverantwortung und Zusammenarbeit sind bereits heute Werte von Stämpflis Firmenkultur, er möchte sie aber noch mehr gelebt sehen. Entscheide sollen künftig so nah wie möglich bei der ausführenden Person fallen. 2015 durften die Mitarbeiter der gruppeneigenen Kommunikationsagentur ihren neuen Chef selber wählen – die Geschäftsleitung traf nur die Vorselektion.

Bis im Sommer des laufenden Jahres will Stämpfli die Holacracy­-Diskussion in seine Firmen tragen und prüfen, ob dieses oder ein anderes evolutionäres Organisationsmodell am besten geeignet ist, die Firmenziele zu erreichen.

Weniger Koordinationsaufwand

Nicht mit Holacracy, aber gleichfalls auf Basis evolutionärer Organisationsformen arbeitet der auf Change­Management spezialisierte Unternehmensberater Beat Fraefel aus Affoltern am Albis. Er berät derzeit ein Spital und ein Handelsunternehmen, welche die Selbstorganisation der Belegschaft forcieren möchten. Im Spital sollen sich die Angestellten im Schichtbetrieb selbst organisieren, damit die Abläufe verbessert werden und der Koordinationsaufwand als Führungstätigkeit entfällt. Das Handelsunternehmen mit rund 50 Mitarbeitern – es vertreibt teure, technisch anspruchsvolle Investitionsgüter – möchte erreichen, dass Kunden künftig nicht mehr mit mehreren Kontaktpersonen im Unternehmen sprechen. Beide Organisationen stehen nach ersten Workshops nun vor dem Entscheid, ob man im Tagesgeschäft mehr auf Selbstorganisation setzen möchte.

Fraefel sieht vor allem zwei Gründe für das Interesse an evolutionären Organisationsformen. Einerseits vereinfachen die Konzepte den Umgang mit Komplexität. Andererseits identifizieren sich junge Berufsleute stark mit den im Manifest von responsive.org festgehaltenen Werten. Diese Altersgruppe übernimmt bei Firmen zunehmend verantwortungsvolle Positionen und möchte diesen Werten vermehrt zum Durchbruch verhelfen.