Traditionelle Organisationen auf dem Prüfstand
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts konnten in Produktionsbetrieben erhebliche Effizienzsteigerungen durch Reduktion der Komplexität erreicht werden. Der Schlüssel dazu war die Trennung der wertschöpfenden von nicht wertschöpfenden Aktivitäten. Durch klare Hierarchien und zentrale Steuerung besteht eine Kongruenz von Organisationsstruktur und Informationsfluss und die Vorgesetzten sind die wichtigsten Knowhow-Träger. Solche Organisationen sind geprägt durch funktionale Silos sowie einem Menschenbild der „Theorie X“: Der Mensch ist unwillig und muss an die Hand genommen werden.
Auch in der heutigen Zeit orientieren sich viele Unternehmungen und v.a. Verwaltungen an diesem klaren linearen Organisationsprinzip. Doch in der Praxis sind gleich mehrere Paradigmenwechsel erkennbar:
- Eine exakte langfristige Geschäftsplanung wird zunehmend verunmöglicht – schnelle Veränderungen in kurzer Folge stellen die Verbindlichkeit auf die Probe und erschweren die Planung und Zusammenarbeit;
- durch neue Geschäftserfordernisse und elektronische Informationssysteme erfolgen die Informationsflüsse zunehmend horizontal und somit quer zur Linienorganisation;
- Projektorganisationen – auch mit externen Partnern – haben vielfach eine grössere Bedeutung als die Linienorganisation;
- das Knowhow liegt vermehrt bei den ausführenden Spezialisten statt bei den Vorgesetzten.
Die Organisationen sind zwar noch hierarchisch, doch die Zusammenarbeit erfordert eine Netzwerk-Struktur – dies muss zur Überlastung der zentralen Steuerung führen! Als Folge nehmen wir Verzögerungen, Nacharbeiten oder eine überbordende Administration wahr – in Japan werden solche Verschwendungen als „Muda“ bezeichnet.
Immer mehr erkennt man, dass heute Kostenoptimierungen durch lineare Kürzungen mit der „Rasenmäher-Methode“ das Problem nicht nachhaltig lösen. Irgendwann ist der Rasen zu kurz, um weiter gemäht zu werden, doch die Kosten sind immer noch zu hoch.
Evolutionäre Organisationen
Verschiedene Unternehmungen haben deshalb „evolutionäre Organisationen“ entwickelt. Durch kollektive Intelligenz ist ein besserer Umgang mit Veränderung, Mehrdeutigkeit und Unschärfen möglich. Solchen Organisationen basieren auf verschiedenen Grundprinzipien:
- Sehr flache Hierarchien mit grösstmöglicher Selbstorganisation in interdisziplinären Teams, welche die Wertschöpfung erbringen. Solche Teams sind eigenverantwortlich in der Planung, Entscheidung, Durchführung und Kontrolle ihrer Aktivitäten.
- Mit verschiedenen Prinzipien und Randbedingungen wird die Zusammenarbeit in physischen und virtuellen Räumen unterstützt. Dazu gehören u.a. hohe Transparenz, Befähigung der Mitarbeitenden zum Umgang mit Konflikten und zum raschen Entscheiden oder flexible Informationssysteme.
- Die Steuerung erfolgt nicht durch exakte Ziele und Controlling, sondern durch Werte, Prinzipien und geteilte Zielvorstellungen. Basis ist ein Menschenbild der „Theorie Y“: Der Mensch ist willig und will selbst etwas erreichen.
- Auch solche Organisationen brauchen Führung. Leadership wird jedoch weniger durch die Hierarchie definiert, sondern sie ist viel funktionaler und zielorientierter. In der Folge beschäftigen solche Organisationen massiv weniger Führungskräfte und deren Rolle ist neu definiert: Wie ein Gärtner sind sie bestrebt, ein optimales Umfeld für die Mitarbeitenden zu schaffen.
Kann das wirklich funktionieren? Diese Beispiele zeigen, dass solche Netzwerk-Organisationen in verschiedenen Branchen und Unternehmensgrössen tatsächlich erfolgreich gelebt werden:
- Buurtzorg (Gesundheitswesen, NL, ca. 7‘000 MA)
- FAVI (Metallfertigung, F, ca. 400 MA)
- LIIP (Informatik, CH, ca. 130 MA)
- DM-drogerie markt (Handel, D, ca. 40‘000 MA)
- Evangelische Schule Berlin Zentrum (Bildung, D, ca. 60 MA)
Ob diese Organisationsformen nun „evolutionär“, „Teal“ oder „Holacracy“ genannt werden, ob sie als parallele oder verschachtelte Teams oder gar als Netz von Absprachen organisiert sind – allen gemeinsam ist, dass sie nach einer anderen DNA funktionieren und sehr effektiv sind.
Denkanstösse für vernetzte Organisationen
Es liegt auf der Hand, dass die DNA einer bestehenden Organisation nicht über Nacht geändert werden kann. Die folgenden Anregungen zeigen erste Schritte auf dem Weg in eine vernetzte Organisation auf, welche den heutigen Anforderungen besser entspricht:
- Wo können funktionale Silos so umgestaltet werden, damit Teams für bestimmte Anspruchsgruppen ganzheitlich verantwortlich sind?
- Wie können Teams herangeführt werden zu mehr Selbstorganisation? Welche Koordinationsaufgaben können in den Teams statt durch Vorgesetzte wahrgenommen werden?
- Wie kann die Transparenz innerhalb der Organisation erhöht werden? Pflegen wir eine sinnvolle Nutzung von Informationssystemen?
- Wie erreichen wir eine Lern- und Fehlerkultur, welche sich am Möglichen und nicht am Erlaubten orientiert?
- Ist die Leistungsbeurteilung durch Vorgesetzte noch richtig oder bringt uns ein 270°oder gar ein 360° Feedback weiter?
- Wie gelingt es uns, nicht nur IN der Organisation zu arbeiten sondern auch regelmässig AN der Organisation?
- Welche formale Führung und Governance sind unverzichtbar?
Es liegt auf der Hand, dass eine solche Veränderung nicht trivial ist und dass sie nicht an einem Tag zu erreichen ist. Es ist auch absehbar, dass sich zumindest zu Beginn einige der Betroffenen – insbesondere die heutigen Führungskräfte – schwer tun damit.
Und ja, es braucht Mut, einen solchen Weg zu beschreiten – zumindest in der Anfangsphase.